Laura Sonderausgabe, « Die Verfertigung der Linie – La construction du trait », 2014
Johannes Meinhardt
Zeichnung als Erinnerung und Erfahrung
1. Intention und Invention
Geoffroy Gross situiert sich mit seinen Gemälden sowohl kritisch als auch erinnernd in der Geschichte der modernen Malerei; dabei bezieht er sich grundsätzlich auf die moderne, nichtgegenständliche Malerei, jene radikal abstrakte Malerei (von den zehner bis zu den sechziger Jahren des letzten Jahrhundert), welche die Kategorie der Komposition auf ihren Höhepunkt geführt hatte – das Gemälde ist ein autonomes System der Bildfläche, das rein pikturale Elemente analog zu den Elementen einer Sprache zusammenstellt und in eine kompositionelle Konstellation überführt. Aber ebenso bezieht er sich auf die beiden Krisen der abstrakten Malerei, die in den zehner und in den sechziger Jahren (bei Ellsworth Kelly schon etwas früher) einsetzten; Krisen, die unter anderem dadurch ausgelöst worden waren, dass die idealistische Vorstellung von einem Autor, einem Schöpfer, der sich und seine Welt mit Hilfe seiner pikturalen Sprache artikuliert oder ausdrückt, problematisch geworden war. Dieses Schöpfersubjekt, das sich auf seine Authentizität, Originalität und Spontaneität berief, auf eine idealistische Schöpfungskraft, verstand sich als Erfinder, der die Sprache seines Ausdrucks erfand und im Schaffen des Werks seine Intentionen realisierte. Geoffroy Gross knüpft an die grundsätzliche Infragestellung dieser schöpferischen Inventionskraft und Intentionalität an; er versucht, durch Störungen und Abweichungen im Produktionsprozess dazu zu kommen, selbst – bis zu einem gewissen Grad – Zuschauer dabei zu werden, wie Bilder quasi von selbst entstehen, wie vor dem Auge des Betrachter Bilder aus den Störungen und Abweichungen der üblichen, intentional gesteuerten Prozesse hervorgehen.
2. Die allmähliche Verfertigung der Linie
Deswegen verwendet Geoffroy Gross unterschiedliche, aufeinander folgende Verfahrensweisen, die die Herstellung der Linie und später des Gemäldes zu einer Abfolge von Störungen, Umwegen und Übersetzungen machen. Seine Malerei beginnt, schon in ihrem ersten Schritt, mit einem radikalen Außer-Kraft-Setzen des schöpferischen Subjekts. Auf relativ kleinen Papierblättern, meist vom Format DIN A4, bringt seine desinteressierte, kaum gesteuerte Hand, wie nebenbei, einige Schleifen hervor: ein asemantisches, leerlaufendes, in sich repetitives Kreisen der Hand, eine fast physiologische Produktion, die fast schon fast nichts erzeugt, fast schon ein Zeichnen am Nullpunkt, ohne Invention, ohne Intention, ohne aktuelles Bewusstsein.
Dieses Gekritzel, diese leere Bewegung der Hand hatte schon auf einem flüchtig hingezeichneten Gitter stattgefunden. Im zweiten Schritt des Verfahrens werden diese schnellen, unkomponierten, ungedachten Schleifen mit Kohle sehr viel größer auf einer Wand nachgezeichnet. Dieses Aufblasen der Zeichnung verändert sie grundsätzlich: erstens ist sie jetzt eine Kopie, eine, wenn auch sehr vergrößerte Nachbildung; und zweitens wird durch die starke Vergrößerung die in der Ausgangszeichnung flüssige Bewegung der Hand zu einem stückweisen, kontrollierten Aufbringen, das die Wahrnehmung einer in ihrer Einschreibung und damit auch in ihrem Verlauf identischen Bewegungspur sehr erschwert: diese Wahrnehmung wird gestört.
Dabei wird das flüchtig gezeichnete Gitter seinerseits vergrößert und systematisiert: dieses Gitter wird in ein Raster von 35 cm x 24 cm überführt, das Maß der kleinen Leinwände, die Geoffroy Gross im nächsten Schritt verwendet. Denn in einem dritten Schritt wird die Wandzeichnung, die immer noch eine Einheit bildete – wenn auch nicht mehr die Einheit einer einzigen flüchtigen Bewegungsspur –, auf eine Anzahl von kleinen Leinwänden übertragen, die das gezeichnete Gitter in ein serielles Gitter aus gleichgroßen Tafeln auf der Wand transformieren. Die Wandzeichnung wird zum einen verdoppelt und durch ihr Double vollständig verdeckt, zum anderen aber wird sie dadurch in ein Tafelbild, ein Polyptychon transformiert. Das heißt aber auch, dass die aufgeblasene Linie der Wandmalerei jetzt fragmentiert, in durch das Format und die Position der kleinen Leinwände determinierte, zufällige Fragmente zerlegt wird. Diese einzelnen Fragmente, die Zeichnungen auf je einer kleinen Tafel, sind kompositorisch völlig unverständlich; als kontingente Fragmente widersprechen sie jedem Versuch, die Einheit einer Invention, einer Intention oder einer Komposition zu finden.
Die fragmentierte Kohlezeichnung auf den kleinen Tafeln wird in einem nächsten, vierten Schritt in eine gebrochene, sichtbar zusammengesetzte Linie transformiert; Geoffroy Gross deckt die Zeichnung mit unterschiedlich langen, immer gleich breiten und geraden Abschnitten von Klebeband ab. Die so entstehende Linie besteht aus kurzen Geraden, die in unterschiedlichen, flachen Winkeln zueinander stehen und auf diese Weise eine Art Vieleck – oder eher eine vieleckige Linie – ergeben. Diese Linie beschneidet Geoffroy Gross an den Außenkanten mit einem selbstverfertigten Gerät, das mit zwei Klingen in festem Abstand arbeitet; mit diesem doppelten Schneidegerät versucht er, den Kurven der Zeichnung nachzugehen, was nur beschränkt möglich ist. Die Linie, die so entsteht, wirkt völlig artifiziell und schwankt in der Wahrnehmung zwischen zufällig und willkürlich; sie vermittelt den Eindruck einer falschen Intentionalität, einer Konstruktion, die den Effekt einer intentionalen Linie mit ungeeigneten Mitteln zu suggerieren versucht.
Nachdem nun die kleinen Tafeln mit mehreren Beschichtungen mit weißer Farbe überzogen wurden, wird (fünfter Schritt) das Klebeband wieder abgezogen und die Kohlezeichnung tritt – allerdings gestört, teilweise abgeschnitten oder überdeckt – in einer Vertiefung zu Tage; sie nimmt die Materialität (nicht den Gattungscharakter) von Druckgraphik an, den Charakter eines Risses, einer Einkerbung, einer Aushöhlung. Diese Kerbe bewahrt die Konturen des aus geraden Stücken zusammengesetzten, dann gekurvt beschnittenen Klebebands und zeigt zugleich, in ihrem Grund, die teilweise abgeschnittene oder überdeckte Kohlezeichnung; Kontur und Verlauf des Zuges klaffen auseinander.
Der sechste Schritt betrifft nicht mehr die Zeichnung, sondern die Fläche des Polyptychons: ein größerer Teil derjenigen kleinen Tafeln, die nicht von der Zeichnung berührt oder durchquert werden, wird monochrom farbig bemalt (ausgehend von vier Pigmenten). Diese Transformation weißer in farbig monochrome Tafeln folgt keiner Regel. Wichtig ist Geoffroy Gross dabei vor allem, dass der Einsatz der Farbe die Wahrnehmung des seriellen Polyptychons verändert: jetzt entsteht eine Art Komposition, eine kompositionelle Beziehung der gleichgroßen, aber teilweise farblich unterschiedenen Teilflächen. Auch wenn dieses kompositionelle Moment doppelt prädeterminiert ist, durch das serielle Gitter des Polyptychons (damit ist immer dasselbe Format der farbigen Elemente vorgegeben) und dadurch, dass nur von der Zeichnung nicht erfasste Tafeln monochrom werden können, entsteht nun aber ein Moment, das die serielle Statik des Gitters aufreißt und ihm Unregelmäßigkeit und Dynamik verleiht.
3. Präsenz und Absenz
Die traditionelle Funktionsweise von Gittern wird durch die monochrom farbigen Gitterelemente konterkariert; das Gitter lädt sich auf mit farblichen, kompositionellen Spannungen – denn die Wahrnehmung sieht kompositionell, sobald visuelle Elemente zueinander in Beziehung gestellt werden, unabhängig davon, ob tatsächlich kompositionelle Arbeit geleistet wurde oder die `Komposition´ nur ein Effekt von Verfahrensweisen, Zufall oder Willkür ist. Der Betrachter nimmt eine ästhetische Einstellung ein, der alle Elemente einer determinierten Fläche in einem unendlichen Wechselspiel wahrnimmt; die kompositionellen Spannungen sind völlig präsent im Blick, werden in der Gleichzeitigkeit der ästhetischen Einstellung gehalten, welche die virtuelle Realisierung aller dieser Beziehungen oder Spannungen als Potentialität mitumfasst. Gegenüber dem Gemälde ist der Betrachter ganz in der Gegenwart (und auch selbst, sich selbst präsent, wie Barnett Newman zeigte). Dabei fungiert, für Geoffroy Gross, jede farbig monochrome Fläche im Polyptychon als dynamischer Knotenpunkt, als Punkt der Verlangsamung, des Innehaltens oder der Beschleunigung des Blicks.
Neben die kompositionelle – in der Entstehung des Gemäldes faktisch akompositionelle oder sogar antikompositionelle – Wahrnehmung der Präsenz des Gemäldes in der ästhetischen Einstellung tritt aber zugleich die Wahrnehmung der Zeichnung im Gemälde, der komplexen Linie, als Wahrnehmung einer mehrfachen und gestaffelten Absenz. Die nicht präsente, sondern mehrfache nur angezeigte oder indizierte Realität der Linie wird nicht im Rahmen einer kompositonell-ästhetischen Einstellung wahrgenommen und verstanden, sondern, als Spur einer ersten Einschreibung, im Rahmen einer spezifischen Einstellung auf Indexe der Vergangenheit. Linie als eingeschriebene Spur oder als Zug ist selbst schon ein Zeichen der Abwesenheit, aber nicht im dem Sinn, wie in Symbols, in Sprachzeichen, der Referent, der intendierte Gegenstand, abwesend sein kann, sondern in jenem kausal-indexikalischen Sinn, dass der Verursacher der Spur, oder, genauer, die Ursache der Spur in der Spur abwesend ist; diese weist nur auf jene hin.
Aber auch diese erste Spur ist ihrerseits in einem Prozess der Überdeckungen und Transformationen untergegangen, der in einer Reihe von Schritten die sichtbare Linie erst allmählich verfertigt hat. Die einzelnen Schritte der Transformation, die jeweils eine vorhergehende Linie verdeckt oder verändert haben, lassen sich teilweise gut indexikalisch erschließen, teilweise auch kaum mehr (so die erste, kleine und flüchtige Kritzelei); wir stehen vor einer Staffelung von Indexen und Schichtungen von Überlagerungen, die auf eine Entstehungsgeschichte der Linie verweisen, deren Anfänge in einem unzugänglichen oder nur phantasmatisch erschließbaren Ursprung verschwinden.
Neben der Präsenz der ästhetischen Erscheinung und der vielfachen Absenz der indexikalischen Spur gibt es in der Malerei von Geoffroy Gross noch ein weiteres Spiel, das zwischen Präsenz und Absenz schillert: ein Spiel mit der Geschichte der modernen Malerei, insbesondere mit deren Strategien, der Intentionalität und der Invention zu entkommen. Indem er mit möglichst asemantischer, ausdrucks-, aussage- und kompositionsloser Kritzelei arbeitet; mit dem Kopieren vorgegebener, schon verfertigter (already made) Elemente; mit der Brechung der Linie durch unterschiedlichste Transformationen; mit dem seriellen Gitter der kleinen Leinwände; mit dem Zufall (in der Zerlegung der Linie durch das Gitter) – erinnert er an zentrale Positionen der modernen Kunstgeschichte, vor allem aus dem Kontext der beiden großen Krisen der Moderne. Die Werke und manchmal sogar einzelnen Arbeiten, die auf diese Weise angespielt werden, lassen sich bis zu einem gewissen Grad als ikonische Zeichen verstehen: der Referent ist abwesend (vor allem durch das ikonische Zeichen verdeckt), aber der Signifikant ist ihm irgendwie ähnlich (eine geschwächte Denotation); zum anderen lassen sie sich als Schichtung beschreiben (materielle Schichtung im Gemälde und zugleich Schichtung im Sinne der psychoanalytische Metaphorik der Erinnerung); als Oberfläche, hinter der eine tiefere, verdeckte Schicht aufscheint, eine Art Palimpsest, in dem die Spuren der früheren und – topologisch – tieferen Einschreibung nur noch beschränkt erschließbar sind. Ein solches Erinnern aber versucht, die Geschichte der abstrakten Malerei zu bewahren; nicht sie zu archivieren, sondern ihre Realität und Potentialität offen zu halten.