Laura Sonderausgabe, « Die Verfertigung der Linie – La construction du trait », 2014
Jérôme Diacre
Die Verfertigung der Linie – Eine Poetik der Linie
« Mittels einer kühnen, vereinfachten und stetigen Linienführung wird die Form behauptet, und dieses Urteil gefällt. Aber es gibt noch viel anderes über die Linie zu sagen; es handelt sich vielleicht um das menschliche Zeichen und den stärksten Ausdruck des Urteils“.
Alain, System der Schönen Künste
Geoffroy Gross ist ein gleichzeitig methodischer und intuitiver Maler. Seine Vorgehensweise zeugt sowohl von einem strengen Kalkül als auch von der Freiheit der Linie. Im Mittelpunkt seiner Werke stehen die abstrakten Formen, die er zu erzeugen versteht und die systematisch die Grazie und die Spontaneität, die Harmonie und die sorgfältige Konstruktion verbinden.
Wenn man die Bilder von Geoffroy betrachtet, dann ist es die Linie, die sehr schnell die Aufmerksamkeit auf sich zieht. 2009 hat Geoffroy Gross für die Veröffentlichung seines Katalogs im Kunstzentrum L’Artboretum das Detail einer Linie für den Umschlag ausgewählt. Man sieht dort aus der Nähe eine schwarze Linie, die er auf die Täfelchen seiner Polyptycha genau an den Ort ihres Schnitts und ihrer Verbindung mit einem anderen Element des Polyptychon malt. Seine Werke sind Kompositionen, die aus einer relativ großen Anzahl kleiner Bilder, sogenannter Täfelchen, aufgebaut sind. Es handelt sich um eine Art reguläres Mosaik, eine geometrische Zusammenstellung von auf Rahmen aufgespannten Leinwänden, die in ihrem Nebeneinandersein ein großes Ganzes bilden. Einige der Täfelchen sind weiß und werden von einer schwarzen Linie durchquert, andere sind blaue Monochrome oder farbig. Die Linie nimmt dort eine ganz besondere Stellung ein. Sie ist gleichzeitig Detail, Riss, Bewegung, Teilung und Verbindung.
Es ist bezeichnend, dass der Künstler für den Katalogumschlag eine Nahansicht der Linie ausgewählt hat. Diese Einzelheit definiert klar eine Blickrichtung. Die Konstruktion der Linie steht hier im Vordergrund. Es geht nicht nur darum, das Detail als die zur Schau gestellte Spur des Archivs oder des Beweises der Schöpfung in ihrem Prozess zu denken. Es handelt sich um eine Materialität, eine Dichte und eine Textur, die es erlaubt, mit dem scheinbaren Formalismus der Kompositionen zu brechen. Die Linie ist eine Entscheidung, und es ist in diesem Sinne, dass sie mit dem Detail zusammenfällt. Wenn wir hier mit einer Geschichte der Linie konfrontiert werden, dann ist es die einer Geschichte der Entscheidungen und der Engagements, eine Geschichte der Freiheit und der Wünsche. Daniel Arasse beendet in seinem Werk Das Detail / Beitrag zu einer Geschichte der Malerei aus der Nähe seine Ausführungen folgendermaßen:
« Das Detail ist im Bild das, was die Vokabel, laut Roland Barthes, in der Sprache ist; sein „Glanz“, sein „Unterschied“, seine „Spalt- und Trennkraft“ lassen einen „Wert“ hervortreten, der nichts mit einem „Wissen“ zu tun hat, also einen Wunsch nach Malerei, der in den Bildern ist, aber nicht durch die Details, „die darstellen und erzählen“, sondern durch die Details, die „genügend klar umrissen, leuchtend genug und triumphierend“ sind.“ 1
In diesem Satz erzählt Daniel Arass uns von seiner Leidenschaft für die Malerei und von der für den Kunstkritiker und –historiker unentbehrlichen Bescheidenheit. Die Formulierung „Spaltkraft“ und die Adjektive „klar umrissen, leuchtend, triumphierend“ sagen auch etwas über die Linie aus. Die Funktion der Linie ist es, wie ein Detail auszusehen, das aus einem homogenen Fond oder Ganzem herausgeschnitten, -gerissen oder -gezogen wird. Es handelt sich um eine genügend artikulierte, geschickt präzise und abweichende Überraschung, die Linie und Detail zusammenfallen lässt. Diese Manier gibt es seit langem. Bei Tiepolo zum Beispiel sind die Engelchen von einer dünnen schwarzen Linie umgeben, die die blassen Hautfarben vom Fond eines nicht weniger blassen und faden Himmels abhebt. Diese Art von Defekt, die man schnell als Rokokoplumpheit abqualifiziert hatte, erinnert daran, dass die Linie zeichnet, unterscheidet und unterstreicht, aber auch das beobachtenswerte Subjekt dem Undifferenzierten entreißt. Beinah unsichtbar erzeugt sie ein Relief… vielleicht heimlich. Auf den Wänden der Höhlen von Lascaux oder Chauvet nimmt der dahin gespuckte und dann von Händen – von denen man heute weiß, dass es die von Frauen und Kindern waren – verteilte Schlamm Gestalt an durch die schwarze und harte Holzkohlenlinie. Das Fell der abgebildeten Tiere, das das Weiß mit dem Beige mischt, bis hin zum Orange, und dem Grau des Steines ähnelt, der als Unterlage dient, wird so in einem klaren Umriss wiederaufgegriffen: dem der Silhouette, der Allegorie und der Verzauberung. Die Linie ist dann der Riss, der einen heiligen Raum erfindet und umgrenzt.
In seinem Prosagedicht „Die Ankunft der Linie“ spricht René Char von Mirò als einem der „wesentlichen Verbündeten“2. So beschreibt er die Linie in ihrem am meisten dem Ereignis verbundenen Ausdruck:
„Auf der intakten Oberfläche erscheint die Linie zuerst. Ein Strich, der bis zum Ende seines Erscheinens geht und nicht aufhört, bevor er es umschrieben hat, genau an dem Ort, wo das Ende sich im Anfang aufhebt, ist zuerst kontinuierliche Linie, fortschreitende Aktualisierung einer Freiheit, und gleichzeitig Genuss dieser Freiheit und gleichzeitig Wunsch danach, Genuss und Freiheit zu verwechseln, ihre gemeinsame Substanz und ihre gemeinsame Subversion zu umreißen“.
Die Freiheit der Linie teilt Geoffrey Gross mit Mirò. Aber im Gegensatz zu den Werken von letzterem, wie La Siesta von 1925, wo die Linien das ganze Bild durchqueren und „das Ende sich im Anfang aufhebt“, verbleibt Geoffrey Gross’ Linie in dem durch das Polyptychon konstruierten Raum. Sie durchquert tatsächlich die Täfelchen zur Gänze, aber sie hat einen Anfang und ein Ende. Sie bildet eine begrenzte Bewegung. Die Subversion ist eher die des „Sprungs“, den sie von einem Täfelchen zum anderen macht. Das ist das andere Element des Details und die andere Überraschung bei der Beobachtung seiner Polyptycha: die Linie setzt sich jenseits der Grenzen zwischen den Täfelchen fort, sie durchquert die Leere, die Abwesenheit und die andere Seite, sie hört auf, gerade weil sie kontinuierliche Bewegung sein will. Bei Fontanas Concetto Spaziale legt die Erfahrung der Spalte und des Schnittes Rechenschaft von der Unabgeschlossenheit der Leere ab. Die Öffnung der Leinwand durch einen Messerstich oder das Durchlöchern ist weniger eine Geste der Zerstörung oder Erhebung des Bildes in den Status eines Objekts, als der Einbruch einer anderen Dimension, einer unerwarteten Tiefe. Dieses schwarze und seltsame Klaffen, das Resultat eines sublimierten Unfalls, billigt dem Blick eine andersartige Perspektive zu: die Malerei ist von einem neuen Riss geprägt, einem Bruch, der finster wie eine schwarze Magie ist, die auf die durchlöcherten und angebrannten Papiere, Hexereien und Verwünschungen antwortet, die Antonin Artaud an Persönlichkeiten richtete. Aber wenn seine Linie Spaltung und Kluft sein soll, dann muss man vielleicht in Habbotts Flatland die Gründe eines anderen Wissens suchen. In seiner Einleitung zu diesem Roman verortet Giorgio Manganelli dessen Originalität darin, dass er ein „Universum tragischer und gnostischer Visionen, Erfindungen auf halbem Wege zwischen dem Alptraum und der Satire, dem Rätsel und der platonischen Idee [ist] [...] um diese fiktive Karte zu zeichnen, war eine geniale Pedanterie nötig, eine visionäre Phantasie, ein deduktiver Wahnsinn, der eines Mönchs würdig ist“. Um welche Erzählung geht es? Um die einer Reise ins Herz einer zweidimensionalen Welt. Das Interessante ist es hier, zu hören, was eine Person (ein Dreieck) anlässlich ihrer Reise nach Lineland, dem rein eindimensionalen Land, schreibt:
« Bei diesen Worten machte ich mich daran, meinen Körper aus Lineland heraus zu bewegen. Solange ein Teil von mir in seinem Reich und vor seinen Augen blieb, rief der König ohne Unterlass aus: „Ich sehe Sie, ich sehe Sie immer noch, Sie bewegen sich nicht“. Aber als ich schließlich seine Linie ganz hinter mir hatte, schrie er mit seiner schrillsten Stimme: „Sie ist verschwunden, sie ist tot“. „Ich bin nicht tot“, erwiderte ich. „Ich habe Lineland verlassen, das heißt, die gerade Linie, die Sie Raum nennen, und ich bin im wirklichen Raum, wo ich die Sachen sehen kann, wie sie wirklich sind“.3
In der Linie zu sein, oder außerhalb von ihr, definiert eine gewisse Weise, die „Sachen so zu sehen, wie sie wirklich sind“, oder so, wie wir glauben, dass sie sind. In diesem Sinne erwähnt Manganelli eine „platonische Idee“. Um das „Höhlengleichnis“ im siebten Buch von Platons Staat zu verstehen, muss man zuerst den Schluss des sechsten Buchs mit seiner Theorie „der Linie“ lesen. Sokrates definiert dort die Wirklichkeit, die Erkenntnis und die Gerechtigkeit dank der Aufteilung einer Linie in Abschnitte, von denen jeder die sichtbare Welt – die der Täuschungen und des bloßen Glaubens – von der intelligiblen Welt unterscheidet, der Welt der Wahrheit und des Wissens. Die Linie wird also zur Grenze, kritischen Position, Unterscheidung. Jeder Abschnitt der Linie setzt dann einen Übergang und eine Verschiebung sowohl des Blicks wie des Denkens voraus.
Die Linie bildet eine Trennung, aber auch eine mögliche Verbindung. Sie trennt, aber definiert auch eine Einheit, das heißt die Einheit einer größeren Welt, die verschiedene Gedanken und Zeiten versammelt. Die Linie wird Sinn und Zeichen, oder auch das, was man die Verbindung nennen könnte – Bindestrich zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Traum und Wirklichkeit, Kunst und Industrie, Modern Style und Tradition. Es war W. Benjamin, der das in seinen Beobachtungen über die Pariser „Passagen“ in den zwanziger Jahren feststellte. In diesen eigentümlichen Räumen, die Paris diskret von einem Boulevard zum anderen, von einem Arrondissement zum anderen durchqueren, entstand im 19. Jahrhundert eine ganze Welt mit ihren Geschäften, ihren Handwerkern, ihren Traditionen und ihren Waren. Benjamins Untersuchung der Passagen entspricht der Beschreibung einer Traumwelt, die ein „Versuch der Aufwachtechnik“ ist, ein „dialektischer Versuch des Eingedenkens“. Die Erfahrung der Linie als Passage ist entscheidend. Der Limes, der Pfad, die Passage, der Weg zwischen zwei Grenzen, das Intervall, die Drift, die Verlängerung von einem Rand zur anderen, die Franse…; die Linie zeugt stets von derselben Subversion. Die Passage ist ein zweckentfremdeter, geheimer und geschützter Weg. Das ist ein bisschen das, um was es hier in der Zeitschrift geht, die Geoffroy Gross’ Ausstellung in der Anhaltischen Gemäldegalerie in Dessau-Roßlau begleitet. Diese besitzt eine große Kupferstichsammlung, zu der der Kupferstich Die Heilige Margarethe (1513) von Lukas Cranach dem Älteren gehört. Man könnte lange über die Natur des Strichs und der Linie im Kupferstich sprechen, die sehr verschieden von der der Kohle- und Bleistiftzeichnungen Geoffroy Gross’ ist. Aber was dem Museum gelingt, indem es diese Art von Annäherung organisiert, ist wahrscheinlich dasselbe, was die Pariser Passagen vom Gesichtspunkt der Ware aus taten: in denselben Raum eine dialektische Geschichte der Geste zu plazieren, wo der Fetischismus seine Fragestellungen zwischen kreativer Intimität und institutioneller Vermittlung wiederfindet.
1Daniel Arasse, Le Détail / pour une histoire rapprochée de la peinture, Paris, Flammarion, 1996, p. 17.
Roland Barthes, Sollers écrivain, Paris, Seuil, 1978, p. 387.
2 René Char, Recherche de la base et du sommet, « Alliés substantiels », Paris Gallimard, 1955.
3 [Edwin A. Abbott,], Flatland. A Romance in Many Dimensions, Seeley, London 1884, p. 62
“At the word I began to move my body out of Lineland. As long as any part of me remained in his dominion and in his view, the King kept exclaiming, » I see you, I see you still ; you are not moving. » But when I had at last moved myself out of his Line, he cried in his shrillest voice, “She is vanished ; she is dead. » » I am not dead, » replied I ; « I am simply out of Lineland, that is to say, out of the Straight Line which you call Space, and in the true Space, where I can see things as they are.”